Andere Augen
Wer sich mit dem Werk der Artists Anonymous befaßt, muß sich davor hüten, sich von der Frage nach der Autorschaft verwirren zu lassen. Naturgemäß läßt sich diese Frage nicht vermeiden, denn bei Kunstwerken wird uns für gewöhnlich gleich als erstes gesagt, von wem sie stammen. Wo uns diese Auskunft, wie hier, vorenthalten wird, werden wir erst recht neugierig. Warum bekennt sich bei diesen Arbeiten niemand zur Urheberschaft? Und soll man, um das zu erklären, wieder einmal die hinlänglich bekannten Geschichten vom Tod des Autors erzählen? Das wäre, wie sich zeigen wird, gar zu simpel. Gar zu simpel wäre es andererseits aber auch, die Anonymität einfach aufzuheben. Zwar wäre es ein Leichtes, Namen von real existierenden Personen zu nennen und biographische Anekdoten zu kolportieren. Doch das führt nicht weiter. Was weiß man denn schon, wenn man weiß, daß ein Gemälde von Glenn Brown stammt, von Georg Baselitz oder Paula Modersohn-Becker? Gehen wir also von „B“ wieder zurück zu „A“ – genauer gesagt zu „AA“.
Wir haben damit zwei Buchstaben vor uns, doch dürfen wir nicht übersehen, daß diese Buchstaben nicht nur eine semantische Funktion haben (die einer Abkürzung), sondern zudem auch eine bestimmte graphische Gestalt. Anders als beim Emblem der traditionsreichen Vereinigung namenloser Trunksüchtiger sehen wir hier zunächst ein großes weißes „A“, das innerhalb eines schwarzen Rechtecks plaziert ist, und dann, rechts daneben, ein ebensolches, aber schwarzes und auf dem Kopf stehendes „A“ in einem weißen Rechteck. Auf diese Weise werden wir bereits durch das Signet auf ein zentrales Prinzip der Arbeit der Artists Anonymous hingewiesen. Es ist das Prinzip der Umkehrung.
Der eine Aspekt dieser Umkehrung betrifft die Form, der andere die Farbe. Ein „A“, das um 180 Grad gedreht wird, sieht anders aus als zuvor. (Vielleicht erkennen wir jetzt nicht mehr nur den Buchstaben, sondern auch den Kopf des geopferten Stieres.) Nun ist es in der Kunst der Moderne, und besonders auch in der Kunst der Gegenwart, durchaus nicht ungewöhnlich, daß eine Form auf den Kopf gestellt wird. Georg Baselitz hat diese Geste bekanntlich jahrzehntelang kultiviert. Weitaus ungewöhnlicher und auch komplizierter ist dagegen die Umkehrung der Farbe. Doch genau diese Umkehrung, die Umkehrung der Farbe, bildet die wesentliche Energiequelle des Werkes von Artists Anonymous. Wie ist das zu verstehen?
Zunächst einmal muß nachdrücklich hervorgehoben werden, daß man es hier nicht einfach nur mit einer beliebigen Veränderung von Farben zu tun hat. Es geht nicht darum, sich die Freiheit herauszunehmen, zum Beispiel Pferde, die in der realen Welt niemals blau sind, auf einem Gemälde blau zu malen. Die Abweichung vom Gewohnten verdankt sich keiner Willkür und darf daher auch nicht als Ausdruck künstlerischer Subjektivität gedeutet werden. Sie untersteht strengen Gesetzmäßigkeiten.
Diese gründen zunächst einmal in der Funktionsweise unseres Wahrnehmungsapparates. Jeder hat schon einmal die Erfahrung gemacht, daß unsere Augen, nachdem sie längere Zeit auf etwas Blaues gestarrt haben, von sich aus ein eigenes gelbes Nachbild erschaffen. Jede Farbe ruft dabei ihre Komplementärfarbe hervor. Das hat man in der Malerei mit mehr oder weniger klarem Bewußtsein schon lange beachtet, obgleich es systematisch erst im neunzehnten Jahrhundert von Michel Eugène Chevreul erforscht wurde. Da der genannte Effekt aber niemals lange anhält und sich bei jeder neuen Fokussierung des Auges erneut einstellen muß, gab es bislang kaum Versuche, das Phänomen der Umkehrung farbiger Muster in ihr Gegenteil zu einem eigenen Thema der Kunst zu machen. Die berühmteste Ausnahme von der Regel ist die farbliche Inversion einer der Flaggen von Jasper Johns aus dem Jahr 1965. Bei diesem hochformatigen Gemälde sieht man in der oberen Hälfte ein nordamerikanisches Sternenbanner mit schwarz-grünen Streifen und schwarzen Sternen auf gelbem Grund sowie, weiter unten, eine farblose graue Flagge von gleicher Größe, auf der für einen kurzen Moment die richtigen Farben erscheinen, sofern man den Blick erst dann auf sie richtet, nachdem man die obere lange genug fixiert hatte.
Festhalten läßt sich die Erscheinung eines komplementären Farbmusters aber erst seit der Erfindung des Umkehrverfahrens in der Farbfotografie, wie es nach dem zweiten Weltkrieg zum allgemein verbreiteten Standard wurde. Seither kann jeder auf dem Zelluloidstreifen mit den Farbnegativen, den man nach der Entwicklung des Film erhält, Bilder der Welt in systematisch verkehrten Farben betrachten. Erstaunlicherweise wurde auch dieses Phänomen in der bildenden Kunst bisher kaum zum Thema gemacht. Die berühmteste Ausnahme von der Regel ist in diesem Fall die kleine Werkgruppe I’m dreaming of a white christmas von Richard Hamilton aus den Jahren 1967-68, in der er das Negativ eines Standbildes aus einem Film mit Bing Crosby abmalte und davon auch verschiedene (unter anderem positive) Drucke herstellte. Auch hier ergibt sich die befremdliche Farbigkeit nicht aus der schöpferischen Souveränität des Künstlersubjekts, sondern aus der unausweichlichen Logik technischer Prozesse und aus der Tyrannei der Chemikalien.
Die auffällige Zaghaftigkeit, womöglich sogar Furchtsamkeit der Kunst gegenüber einer systematischen Verkehrung der Farben steht nun allerdings in einem bemerkenswerten Kontrast zu der Begeisterung, welche die Philosophie für dieses Phänomen entwickeln konnte. Spätestens seit John Locke in seinem 1689 erschienenen Essay Concerning Human Understanding beiläufig bemerkte, man könne niemals wissen, ob ein Anderer am Veilchen nicht – wie man selbst – die blaue Farbe wahrnimmt, sondern im Gegenteil die gelbe, und ob er – umgekehrt – etwa eine Butterblume nicht als etwas Gelbes, sondern als etwas Blaues sieht, haben Gedankenexperimente zum Problem des verkehrten Spektrums in der Theorie des Bewußtseins eine große Rolle gespielt. Noch heute werden beharrlich immer neue Varianten diskutiert. Dabei ist unter anderem fraglich, was sich aus einer Verkehrung der Farben sonst noch alles ergibt: ändert sich nur der Farbton oder auch die Helligkeit und die Sättigung, wird Warm zu Kalt und Nah zu Fern? Ändert sich mit der Farbe auch unser Verhältnis und unser Verhalten zu ihr?
Offenkundig kann an dieser Stelle nicht versucht werden, solche Probleme in allen ihren subtilen Details zu erörtern. Es muß ausreichen, sich klarzumachen, worum es grundsätzlich geht. Die Unterstellung, ein anderer Mensch sähe alle Dinge, die ich sehe, womöglich stets in ihren Komplementärfarben, wird philosophisch vor allem dann interessant, wenn es prinzipiell keine Möglichkeit gibt, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Der Andere bezeichnet die Farbe des Veilchens, das er als eine gelbe Blüte wahrnimmt, mit genau demselben Wort, das auch ich verwende, nämlich „blau“. Er stimmt sowohl im Sprechen als auch im Handeln völlig mit mir überein. Dennoch geschieht in seinem Kopf etwas vollkommen anderes als bei mir.
Was diese bizarre Vorstellung im Rahmen einer Philosophie des Bewußtseins beweisen soll oder kann, steht hier nicht zur Debatte. Zu fragen ist vielmehr, ob sich daraus auch etwas für das Verständnis der Werke der Artists Anonymous ergibt. Dabei ist zunächst zu betonen, daß wir es hier nicht mit mentalen Bildern zu tun haben, die schon per definitionem privat und deshalb für andere prinzipiell unzugänglich sind. Wir haben es vielmehr mit materiellen Bildern zu tun, die von vielen betrachtet und beurteilt werden. Gerade deshalb erscheinen sie aber wie Dokumente eines anderen Sehens, eines Sehens, das nicht funktioniert, wie wir es gewohnt sind, eines Sehens mit anderen Augen. Daß die Kunst es uns ermöglicht, die Welt „mit anderen Augen“ zu sehen, ist natürlich eine Floskel, die eine gewisse Peinlichkeit mit sich führt, weil sie durch all zu häufige Verwendung mittlerweile nahezu jeden Sinn eingebüßt hat. Gemeint ist damit zumeist, daß ein Kunstwerk eine neue Sichtweise der Welt zum Ausdruck bringt, eine neue Interpretation, eine neue Weise, die Realität durch eine eigene Stellungnahme in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen. Hier ist, im Gegensatz dazu, jedoch von etwas Radikalerem die Rede.
„Andere Augen“ – das ist nicht länger bloß metaphorisch zu verstehen. Ganz buchstäblich zielen diese zwei Worte auf einen Austausch der realen Armaturen und der faktisch wirksamen Programme zur Verarbeitung visueller Daten. Hier geht es darum, sich einer neuen Programmierung zu unterstellen, die das Gesehene anders prozessiert als zuvor – so als modifiziere man bestimmte Abläufe im Hirn durch eine Droge. Dabei entstehen Bilder der Welt, deren Farbverteilung immer wieder durch technische Verfahren in ihr Gegenteil umgewandelt werden. Die Menge der Informationen ändert sich dabei nicht. Sie wird nur umkodiert. Aus jedem Punkt eines Negativs wird durch einen eindeutig geregelten Prozeß der entsprechende Punkt seines positiven Pendants und umgekehrt. Aus diesem Verfahren erklärt sich natürlich nicht jeder einzelne Aspekt der dabei entstehenden Bilder, doch bildet es in jedem Fall das grundlegende Produktionsprinzip.
Autorschaft beruht dementsprechend darauf, in sich selbst einen Algorithmus zu installieren, der mit der Unerbittlichkeit von optischen, chemischen und neuronalen Prozessen zu bestimmten Ergebnissen führt. Und da sich diese Ergebnisse darbieten als seien sie das Resultat einer Verarbeitung des Sichtbaren, die völlig anders strukturiert ist als unsere eigene und gewohnte, zwingen sie uns zu der Frage, wie wir überhaupt wissen, was andere sehen, und damit letztlich auch zu der Frage, wie wir überhaupt wissen, was wir selbst sehen. Es geht also nicht so sehr darum, eine eigene Sicht der Dinge zu behaupten. Es geht vielmehr um das künstlerisch weitaus tiefsinnigere Vorhaben zu erkunden, wie sich eine bestimmte Sicht der Dinge überhaupt bildet und worin sie besteht. Wenn diejenigen, die sich der Erforschung dieses Problems mit Hilfe ihrer ingeniösen Umkehrverfahren gewidmet haben, uns nun ihre verblüffenden und faszinierenden Ergebnisse präsentieren, dann ist es im Grunde auch nur konsequent, wenn sie – anders als der Verfasser dieses kurzen Textes – sich nicht selbst beim Namen zu nennen. Statt dessen bleiben sie, zumindest fürs erste, lieber Artists Anonymous.
Karlheinz Lüdeking © 2007
SCHOCK-TOLERANZ
Drei dialektische Umkehrungen: Bilder und Nachbilder von Artists Anonymous
JJ Charlesworth
Die zeitgenössische Kunst ist nichts ohne ihre ‘Kunst-Welt’, diesem Komplex und dieser mobilen Interaktion von Teilnehmern, Machern, Publikum, Institutionen, Medien, Kuratoren, Sammlern, Galerien, Museen, ‘alternativen’ Ausstellungsräumen, Kritikern, Theoretikern, Akademien und Diskursen, die dem Kunstwerk Sichtbarkeit verschaffen, das mitten darin seine Wirkung entfaltet. Und einer der lebendigsten Aspekte der heutigen Kunstwelt besteht in der Vielfalt der Praktiken, die jetzt innerhalb ihrer Kreisläufe von Verbreitung und Austausch toleriert werden – sie werden von einem kulturellen System toleriert und ermutigt, das inzwischen für alles offen ist, was von jedem Beliebigen und von überallher geliefert wird. Es ist dies nicht das Zeitalter der modernistischen Avantgarden, es ist nicht mehr die Epoche der konservativen Ordnung der Kunst, zu der und gegen die jene Avantgarden ihre Fragen und ihre Einwendungen vorgebracht hatten. Fragen wie etwa: Weshalb Malerei? Weshalb nicht Fotografie? Weshalb Realismus? Weshalb nicht Abstraktion? Weshalb der Künstler als Individuum? Weshalb nicht Kunst als kollektive Praxis? Weshalb Können und Kunstfertigkeit? Weshalb nicht Technologie? Weshalb Raffinesse? Weshalb nicht Massenkultur? Weshalb das materielle Objekt? Weshalb nicht Kunst als Idee? Zu ihrer Zeit waren alle diese Fragen direkte Herausforderungen für die unerschütterlichen Definitionen, die die Kunst für sich selbst aufgestellt hatte. Und obwohl die Empörung, die von diesen Fragen ausgelöst wurde, uns heute, wenn wir zurückblicken, seltsam erscheint, so ist es doch wichtig festzuhalten, dass es sich bei diesen zunächst um schockierende Ereignisse handelte, welche die Ästhetik, die kulturelle und soziale Legitimität der Kunst herausgefordert hatten. Heute wird die Idee, dass die Kunst starke Reaktionen hervorrufen kann und soll, dass sie die Begrenzungen der normativen Kultur überschreiten sollte, mit Vorsicht und ohne klare Position behandelt. Es ist leicht zu wissen, wie man schockiert und wen man schockiert. Es ist aber schon schwieriger zu wissen, weshalb man schockiert…
In welchem Zusammenhang steht die Frage des Schocks mit dem Werk der Gruppe Artists Anonymous? Vielleicht geht es dabei um die Tatsache, dass unter den zeitgenössischen Künstlern, die heute tätig sind, Artists Anonymous sich durch die Art abheben, wie ihr Werk eine neuartige und grundlegende Betrachtung über die Natur der Grenzüberschreitung in der heutigen Kunst provoziert, ohne dabei aber auf Klischees oder erkennbare Schemata zurückzugreifen, was aus ihnen einfach nur eine weitere Gang von enfants terribles machen würde, die für die Unterhaltung und den Konsum eines Massenpublikums geeignet sind. Aber gleichzeitig kommen Artists Anonymous dieser neuen Mode der Toleranz nicht entgegen, die innerhalb der Kunstwelt existiert, welche ihrerseits einen riesigen Bereich von anscheinend anspruchsvollen, oft hochgradig spezialisierten Kunstpraktiken unterstützt. Artists Anonymous geben sich nicht damit zufrieden, eine Kunst zu machen, die für das Spezialistenpublikum der Kunstwelt zu einem Objekt der Zustimmung und Übereinstimmung wird (Kunst als eine Form von intellektueller Minderheitenkultur). Sie wollen aber auch kein Werk hervorbringen, welches das Schauspiel des Flirts der Kunst mit dem Mainstream, mit der Massenkultur oder populären Kultur verwendet. Ganz im Gegenteil: Ihr Werk will die Bedingungen jener Trennung zu artikulieren, die zwischen der Kultur der zeitgenössischen Kunst und der breiteren Kultur besteht, und es will aufzeigen, wie die Kunst gegenwärtig versucht, mit den Spannungen umzugehen, die von diesem Zustand der Unterscheidung und Trennung hervorgerufen werden. Was bei kritischer Betrachtung im Werk von Artists Anonymous von Interesse ist, besteht darin, wie sich ihre anscheinend ästhetischen Strategien tatsächlich an institutionelle Bedingungen der Unterscheidung der Kunst von der Mainstreamkultur richten. Artists Anonymous experimentieren mit den aktuellen, gegenwärtigen Bedingungen für die Grenze zwischen der Kunstwelt und der Mainstreamkultur, und zwar auf eine Weise, welche Effekte des Schocks hervorbringt, die nicht unbegründet sind, sondern vielmehr aus dem Aufdecken der Grenzen jener Erwartungen und Voraussetzungen resultieren, an welchen die gegenwärtige Kunstwelt sogar dann festhält, wenn sie glaubt, tolerant zu sein. Die Art und Weise, wie sie diese Wirkung erreichen – dieser Eindruck des Problematischen und des Zusammenstoßes mit der ‘Norm’ – erfolgt durch die Kombination von Techniken und Vorgehensweisen, die als dialektische Oppositionen wirken; diese finden, während sie von einander unterscheidbar bleiben, in einer deutlichen und übersteigerten Anerkennung der Trennung der gegenwärtigen Kunst von der breiteren Kultur zueinander, an die sie sich ja trotz allem wendet.
Wenn die Welt der zeitgenössischen Kunst toleranter geworden ist, was ja der Fall ist, dann hat sich somit die Erfahrung des Schocks abgeschwächt. Sie hat an Bedeutung verloren und wird zunehmend als eine zynische Taktik angesehen, die die Künstler anwenden, und nicht so sehr als das Ergebnis einer Begegnung zwischen dem Werk der Künstler und den Vorurteilen der anderen. In Großbritannien ist zum Beispiel, seit die allgemein als ‘young British artists’ bekannte Generation zu Ruhm gekommen ist, die Vorstellung, dass die zeitgenössischen Künstler Beleidigung oder Schock einsetzen, um (traurige) Berühmtheit und Sichtbarkeit einzufordern, zu einer verbreiteten Klage geworden. Mainstream-Kommentatoren versäumen dabei aber oft zu berücksichtigen, dass diese Taktiken der Beleidigung und des Schocks auf den Kreisläufen der Medienverbreitung, die sie für sich selbst bereitstellen, in hohem Maße parasitär sind. Und wenn solche Kunst die Normen des Anstandes, der öffentlichen Moral oder der Vorstellungen des gesunden Menschenverstandes davon, wie Kunst aussehen sollte, zu überschreiten scheint, legt sie in Wirklichkeit die Tatsache offen, dass eben diese Grenzen des guten Geschmacks und der Schicklichkeit seitens der Mehrheitskultur nicht mehr vehement verteidigt werden. Der Mainstream erscheint jetzt gegenüber den offensichtlichen Grenzüberschreitungen der Künstler viel toleranter als jemals zuvor, während gleichzeitig innerhalb der Kunstwelt die herrschende Ordnung selbst von Pluralismus, Vielfalt und Toleranz bestimmt wird. Alles wird toleriert, nichts kann mehr schockieren.
Die Erfahrung des Schocks ist inzwischen derart sinnentleert, dass der Schock heute als eine zynische Provokation angesehen wird, auf die zu reagieren ‘wir’ – das Publikum – uns bewusst weigern. Dass es einfach ist, auf solche Provokationen nicht zu reagieren, hängt damit zusammen, dass solche Provokationen in hohem Maße zu Routine und Schema erstarrt sind – Sex, Tod, Gewalt, Obszönität und Trivialität sind alle erkennbare Tropen, die, historisch betrachtet, Zensur und Ausschluss von der öffentlichen Kultur hervorgerufen hatten, die jedoch inzwischen keine größeren Feindseligkeiten mehr zur Folge haben, weil die Einstellungen gegenüber dem, was in der Öffentlichkeit dargestellt werden kann, sich im Lauf der letzten paar Jahrzehnte grundlegend verändert haben. Gleichzeitig mutet es ebenfalls wie eine Ironie an, dass solche Formen der Grenzüberschreitung inzwischen eine kulturelle Lizenz erhalten haben, eben aufgrund einer veränderten Einstellung zum Status der Kunst als Teil der zeitgenössischen Kultur. Es wird jetzt allgemein davon ausgegangen, dass die zeitgenössische künstlerische Praxis stets die Grenzüberschreitung erforscht, dass dies aber akzeptabel ist, solange es sich innerhalb der institutionellen Grenzen der ‘Kunstwelt’ vollzieht – die Künstler werden dann nicht länger als gefährliche Revolutionäre oder moralische Dilettanten, sondern vielmehr als gesunde Exzentriker betrachtet, deren Aktivitäten, obwohl sie dem Mainstream-Publikum für gewöhnlich unverständlich bleiben, harmlos sind, eben aufgrund ihrer relativen Abgeschlossenheit gegenüber diesem. Gleichzeitig ist die ‘Kunstwelt’ selbst in vieler Hinsicht vom Schock gelangweilt: wenn man Galerie-Ausstellungen betrachtet oder an den Ständen der letzten internationalen Kunstmesse entlangschlendert, ist es interessant festzustellen, wie wenig die zeitgenössische künstlerische Produktion den Wunsch zu haben scheint, dem vorherrschenden Konsens unter den Sammlern, Kuratoren, Kritikern und den anderen Spezialisten in Form von Konfrontation, Kampf oder Umsturz gegenüberzutreten.
Um die entscheidende Natur der Grenzüberschreitung, wie sie sich im Werk von Artists Anonymous vollzieht, aufzudecken, lohnt es sich also, eine Theorie des Schocks zu umreißen, die den Beziehungen innerhalb der Kultur in jenen Augenblicken Aufmerksamkeit widmet, in denen der Schock auftritt, anstatt zwangsläufig den Inhalt dessen zu untersuchen, von dem man annimmt, dass er schockiert. Wie schon früher angedeutet wurde, liegt der Grund dafür, dass grenzüberschreitende Kunst heute oberflächlich, nicht mehr überzeugend und routinemäßig-schematisch geworden ist, darin, dass sich die Natur der öffentlichen Erwartungen an die Kunst verändert hat. Das hat viel damit zu tun, wie die Gesellschaft jetzt dem Bedeutung beilegt, was öffentlich ausgedrückt wird, im Gegensatz zu der unterdrückteren – und unterdrückenden – Atmosphäre, auf welche die früheren Avantgardebewegungen reagiert hatten. Es mutet heute seItsam an, wenn man daran erinnert, dass in der Vergangenheit der öffentliche Geschmack beim Betrachten von abstrakter Malerei ebenso sehr beleidigt sein konnte wie bei offen pornographischen Darstellungen. Was solche offensichtlich divergenten Reaktionen miteinander verbindet, ist die vorherrschende Einstellung gegenüber dem, was sowohl die ästhetische als auch die moralische Ordnung konstituiert hatte, und wie der Geist dieser Ordnung sich selbst durch das vermittelte, was in der Öffentlichkeit gesagt oder gesehen werden konnte oder eben nicht gesagt oder gesehen werden konnte. Die heutige liberale Kultur unterscheidet sich von der konservativen, traditionalistischen Gesellschaft der Vergangenheit dadurch, dass die Abgrenzung zwischen den öffentlichen und den privaten Bereichen des Lebens unklar geworden ist. Hinsichtlich der persönlichen Moral ist zum Beispiel das, was die Menschen ‘hinter verschlossenen Türen’ tun, nicht länger eine Angelegenheit der Zensur im öffentlichen Diskurs. Heutzutage füllt sich die öffentliche Massenkultur frohgemut mit dem voyeuristischen Genre des ‘Bekenntnisfernsehens’, die am unmittelbarsten in ‘Reality’-Shows wie etwa Big Brother anzutreffen ist, bei denen das Fernsehvergnügen aus dem Beobachten der Bloßstellung und der fehlenden Privatheit der anderen resultiert.
Diese sich verändernde Natur dessen, wie die öffentliche Sphäre reguliert wird, hat auch die Wirkungen verändert, die aus der Anwesenheit der Kunst in der öffentlichen Sphäre resultieren, und da die Massenmedien zunehmend wichtig dabei geworden sind, wie die Realität vermittelt wird, so ist die Kunst in vielen Fällen in jene an der Sensation orientierten Formen der Verbreitung hineingezogen worden, die die Massenmedien anbieten. Es gibt keine bessere Erklärung für den Erfolg der Sensationskunst des letzten Jahrzehntes oder für den Aufstieg des Künstler-Stars, als die Rolle, die die Massenmedien bei der Integration der Kunstproduktion in eine breitere Kultur der Massensichtbarkeit gespielt haben. Und diese Sichtbarkeit definiert sich durch das explizite Anderssein der Kunst: um in der zeitgenössischen Kultur als Kunst sichtbar zu sein, sollte sie auf eine andere Weise als die sonstigen Formen der Kultur in Erscheinung treten, in mancher Hinsicht offensichtlich alternativ und nur in jenen Formen grenzüberschreitend, die bereits als akzeptabel gebilligt sind.
Diese Fragen nach der Trennung und Interaktion zwischen den Arten der Zurschaustellung, der Massenkultur, der ästhetischen Form und der institutionellen Trennung bilden in vielerlei Hinsicht einen Schlüssel zu den Strategien, die von Artists Anonymous eingesetzt werden. Es gelingt ihnen, eine Form der erkennbaren Trennung zwischen Kunst und Kultur mittels einer anderen Form von Trennung ins Wanken zu bringen. Und bei jeder Trennung finden wir diese durch eine weitere innere Opposition gespalten, welche eine andere Frage bei der Begegnung zwischen Kunst und Leben oder zwischen Massenkultur und Kunstwelt zum Thema hat.
Die bemerkenswerteste dieser Trennungen und Oppositionen und zugleich diejenige, die uns ganz unmittelbar in die komplexen Verfahren ihres Werkes hineinzieht, ist die Verwendung der Verdoppelung und Umkehrung, und zwar in der und durch die Malerei und deren Widerspiegelung in der Fotografie. Artists Anonymous bringen, anders als so viele fotorealistische Maler der Vergangenheit, Malerei und Fotografie in einen direkten Kontakt miteinander. Anstelle der abwesenden Fotografie, die die Vorlage für ein Gemälde bildet, das anwesend ist, werden ihre Gemälde jeweils paarweise zusammen mit ihren ‘Nachbildern’ präsentiert – dabei handelt es sich um Fotografien des Gemäldes in Negativ-Farbumkehrung, die im gleichen Größenmaßstab wie das Gemälde selbst präsentiert werden. Die Tatsache, dass die Gemälde von fotografischen Quellen ausgehend produziert werden und dann durch die Umkehrung in der paarweisen Zusammenstellung mit der Fotografie verdoppelt werden, macht diese Bilderpaare zu dialektischen Loops, in welchen das Originalbild selbst nicht mehr wichtig ist. Farbnegative weisen im Gegensatz zu Schwarzweißnegativen ein visuelles Interesse auf, das über ihren Status als reine ‘Negative’ hinausgeht. Was bei den paarweisen Fotografie/Gemälde-Zusammenstellungen erstaunt, ist, dass die Idee des ‘Negativs’ selbst umgekehrt wird: Es gibt nicht länger ein Negativ eines Positivs oder ein Gemälde nach einer Fotografie, sondern vielmehr ein Gemälde und eine Fotografie, die zu einer gegenseitigen Umkehrung werden und jegliche Idee einer Originalfotografie und eines auf diese folgenden Gemäldes verwerfen. Dies wird weiter kompliziert durch die Tatsache, dass bei vielen der paarweise zusammengestellten Arbeiten das Gemalte, das sich selbst als das ‘Positiv’ zu verstehen gibt, bereits voll von Ausschnitten mit Negativ-Umkehrungen ist, und zwar in vielen Fällen so, als ob die physischen Motive selbst mit ihren eigenen Umkehrfarben gemalt worden wären. In dem Diptychon Drugs werden diese Verdoppelungen und Umkehrungen zum Extrem getrieben, wie etwa bei jenem Raum, in welchem die Motive zu sehen sind, der seinerseits ein Spiegelzimmer ist, in welchem jede Wand eine Widerspiegelung bildet.
Diese Taktik der endlosen Umkehrung – das Negativ eines Negativs, das kein Positiv ist – stellt eine Frage der Wahrnehmung dar, die ein konzeptuelles Problem, eine ästhetische Begegnung bildet, die zu einer kognitiven Erfahrung wird. Wir haben uns an die Erfahrung eines nach einer Fotografie entstandenen Gemäldes gewöhnt, gerade so, wie wir uns an die Erfahrung des Negativs von einem Farbfoto gewöhnt haben, deshalb bringen Artists Anonymous uns dazu, die Kategorien der Realität und Wiedergabe als etwas zu erfahren, das über das hinausgeht, was von einem dieser technologischen Kriterien gewährleistet werden kann. Das heißt, wenn wir ein Farbbild als ein ‘Negativ’ erkennen, nehmen wir gewöhnlich an, dass es irgendwo ein ‘korrektes’ Bild, also ein Positiv-Bild der Realität gibt. Oder wenn wir uns ein nach einer Fotografie entstandenes Gemälde ansehen, vergewissern wir uns des Ursprungs des Gemäldes in der Realität der zugrunde liegenden Fotografie, wenn auch nicht unbedingt der Realität des Ortes, der mittels der Technologie der Fotografie wiedergegeben wird. In jeder dieser technologischen Beziehungen zur Realität wird von einem normalen Funktionieren der Wiedergabe ausgegangen, wo Realität und Bild in einer Hierarchie der Nachprüfbarkeit existieren. Die Verdoppelungen und Umkehrungen, die Artists Anonymous in ihren Gemälden und Fotografien einsetzen, präsentieren uns eine schockierende Erfahrung in Hinblick auf die konventionelle Unterscheidung zwischen Gemälde und Fotografie. Als die Fotografie dazu tendierte, sich die privilegierte Relation zur Wirklichkeit in der modernen visuellen Kultur anzueignen, hat sich die Malerei in ihren zeitgenössischen Formen zu einer Darstellung hin bewegt, die sich in imaginären oder phantastischen Modi vollzieht. Aber der Schock, den Artists Anonymous hervorbringen, ist dergestalt, dass jetzt auch die Technologie der Wiedergabe keinerlei gesicherten Zugang mehr zu einer prosaischen Realität anbietet.
Dieser Schock wird, wie es scheint, im Dienste einer grundlegenderen Vorstellung von Realität eingesetzt, als ihn weder eine Fotografie als solche noch ein Gemälde als solches liefern können. In der Ausstellung/Installation Drugs war eine Wand neben dem Diptychon mit folgendem Slogan bekritzelt: “Ich male negative abstrakte fotorealistische Gemälde. Was zum Teufel machst du?” Hier sticht hervor, dass das, was gemalt wird, abstrakte, also nicht einfach “negative” fotorealistische Gemälde sind. Hier nun machen sich Artists Anonymous wiederum daran, einen offensichtlichen Gegensatz in der Geschichte der Avantgarde-Malerei zusammenbrechen zu lassen: den Konflikt zwischen figurativer and abstrakter Malerei, der die Moderne so sehr beschäftigt hat. Während dieser schließlich durch das Eindringen der Fotografie in die Rhetorik der malerischen Darstellung verdrängt wurde, bleibt jedoch ein Aspekt der Abstraktion wichtig. Gerade die Abstraktion war in der Lage, die Erfahrung des Malens und des Betrachtens der Wirkungen des Mediums selbst auf rechte Weise zu befreien: Farbe, Gestik, Geschwindigkeit, nicht-illusionistischer Raum, Flächigkeit usw. sind Eigenheiten, die die optische Anwesenheit von Materialität anbieten kann – eine Realität in sich, und nicht bloß das Bild einer anderswo existierenden Realität. Indem sie sich in ihren komplexen Umkehrungen von Gemälden und Fotografien auf das Abstrakte berufen, weisen Artists Anonymous darauf hin, dass diese Bilder als eine ästhetische Realität an und für sich gesehen werden sollten. Was zählt, ist die Erfahrung der Verdoppelung und Umkehrung als solche – eine Erfahrung, welche den Betrachter nicht veranlasst, nach dem ‘Ursprung’ des Bildes zu suchen, sondern uns eher ermutig, uns der Fähigkeit des Kunstwerks bewusst zu werden, die untergeordnete Beziehung eines Kunstwerks zur Realität zu überwinden – sei es malerisch oder fotografisch. Die Bilder von AA repräsentieren nicht, sondern präsentieren vielmehr die Stellung des Bildes, wenn die Kunst versucht, sich an die Realität zu wenden.
Wenn natürlich die endlose Verdoppelung und Umkehrung beim Hervorbringen von Bildern durch Malerei und Fotografie in Gang gesetzt wird, öffnet sich das nächste Loop. Was für eine Art von Welt ist es letzten Endes, die hier dargestellt wird? Die Welt von AA ist seltsam, jedoch erkennbar. Es ist eine Welt von phantastischen Figuren oder auch von Figuren mit Clownsmasken (jedoch nicht von maskierten Clowns), von erotischen oder pornographischen Begegnungen, von verkleideten oder umgestalteten Körpern, wobei alles in das grell-bunte, kaleidoskop-artige Licht der umgekehrten Farbpalette von AA getaucht ist. Aber obwohl die Inhalte oft als exotisch erscheinen, können diese Szenen nicht als Fiktionen beschrieben werden. Sie geben nicht vor, sich auf eine unabhängige Realität anderswo zu beziehen, sei diese nun fiktional oder fantastisch. Sie sind vielmehr Inszenierungen, Formen einer inszenierten Zurschaustellung wie ein erstarrtes Theater. Es sind Szenen von Exzess und Gewalt, Spiel und Katastrophe. Szenen, die von den visuellen Formen der Gebrauchsartikel der städtischen Massenkultur durchdrungen sind – obwohl diese nur der Abfall der Warenkultur und nicht die glatten, glänzenden Produkte sind, die von der Markenindustrie und den Unternehmensmedien hervorgebracht werden.
Dies bringt erneut eine Verdoppelung, eine innere Komplizierung bei der Identität der Protagonisten mit sich: Diese eigenwilligen Körper sind die exzentrischen Manifestationen von all dem, was unorthodox ist. In einem anderen Jahrhundert wären dies vielleicht die Figuren der Bohème und der Subkultur der Avantgarde gewesen, die sich selbst gegen den orthodoxen, katholischen Anstand stellten. Heutzutage sind sie die Körper einer ausgedehnten, populären Subkultur, die sich von den Zwängen der puritanischen Orthodoxie befreit hat. Aber wenn die Körper der Bohème jetzt Teil einer größeren Gemeinschaft sind, die den marginalen sozialen Status der Bohème nicht länger erfordert, hat dies einen Einfluss darauf, wie wir diese Inhalte im Hinblick auf den Status der Kunst als einer kulturellen Alternative verstehen. Was wir in diesen Szenen finden, sind Figuren, die die heterogenen Körper der populären, sich von den orthodoxen unterscheidenden Bilder repräsentieren, die von der industriellen Massenkultur vermittelt werden, die sich aber andererseits ebenfalls von der inzwischen nicht mehr bohemehaften Subkultur der zeitgenössischen Kunst unterscheiden. Sie sind nicht einfach ‘Invasionen’ oder ‘Übernahmen’ des Bildes des Populären in die Subkultur der zeitgenössischen Kunst hinein. Dies würde ja bedeuten, die Demarkationslinie zwischen Massenkultur und Kunst intakt zu lassen. Weil jedoch diese Figuren und diese Szenen durch die beiden Technologien von Fotografie und Malerei erzeugt werden, rückt diese Synthese vielmehr das kulturelle Problem eben jener Abgrenzung in den Vordergrund. Diese beiden unterschiedlichen Technologien – Malerei und Fotogafie – unterhalten unterschiedliche Loyalitäten einerseits zu den Massenmedien und andererseits zur populären Kultur: während die Technologie der Fotografie dazu tendiert, das autoritative Bild der Unternehmenskultur auf einen jeden einzelnen zu projizieren, ist die Malerei eine Form von Handwerk, die sich, ohne sich dabei festzulegen, sowohl an der aristokratischen Exklusivität als auch an den ausgegrenzten Formen des populären visuellen Ausdrucks orientiert. Es überrascht nicht, dass Tattoos, Graffiti und Körpermalerei in diesen Bildern auftauchen, die durch die Technik – das ‘Können’ – des fotorealistischen Staffeleimalers dargestellt werden.
Aber während sowohl bei Künstlern als auch bei Nicht-Künstlern ein Widerstand gegenüber dem Aufzwingen der Unternehmenskultur allgemein verbreitet ist, scheinen Artists Anonymous nicht irgendeine einfache Lösung oder das herbeigesehnte Zueinanderfinden dieser beiden getrennten Gemeinschaften anzubieten. Artists Anonymous befürworten weder die populäre Kultur innerhalb der Kultur der zeitgenössischen Kunst, noch beabsichtigen sie die Kunst als eine abgesonderte Kultur, die gegenüber dem gleichgültig ist, was sich außerhalb von ihr befindet. Dies sind dann nicht die Figuren von realen Menschen oder eines besonderen sozialen ‘Körpers’. Es sind vielmehr Symbole des Konfliktes zwischen der Selbstdarstellung der Kunst und der Menschen angesichts der Macht einer normativen, industriell gefertigten Kultur. Wenn es den Protagonisten dieser Szenen in einem gewissen Sinne an Identität fehlt, so kommt das daher, dass das wirkliche Thema hier jene Gewalt ist, die notwendig ist, um den Einfluss der industriell gefertigten Medienkultur zu durchbrechen, und ihre Art, wie sie sowohl der populären Kultur als auch der Kunst sichere, unbewegliche Identitäten auferlegt, zu durchbrechen.
Das ist vielleicht der Grund dafür, dass sich letzten Endes die Protagonisten, die wir sehen, immer in einem Zustand der Verkleidung oder Maskerade, der Kostümierung und körperlichen Umgestaltung befinden – dies ist die letztendliche Umkehrung von Identität und Nichtidentität. In der Landschaft der vorgefertigten Kultur sind alle Identitäten unmittelbar sichtbar und transparent, nichts ist unklar oder rätselhaft, nichts kann verborgen werden – alles muss dargestellt werden. Bei Artists Anonymous ist hingegen alles verborgen, alles ist ein Geheimnis, und es enthüllt sich selbst nur, um sein Gegenteil zu enthalten. Aus diesem Grund bleiben sie, obwohl sie ein einziger Organismus sind, dennoch Plural, wobei sie jedoch eine gewisse Ungewissheit über das Ausmaß ihrer Pluralität beibehalten. Hinter Masken und Vornamen verborgen, versuchen sie, die Aufmerksamkeit beim Werk zu belassen und sie nicht auf die ‘Identität’ des Künstlers zu lenken, dieses Totems der zur Sensation gemachten Kunst, deren extremen Sichtbarkeit. Da die Techniken der künstlerischen Tradition mit dem visuellen Exzess einer unzensierten populären Ästhetik verschmolzen werden und jeglicher mögliche Zufluchtsort einer sicheren Darstellung – Identität – durch sein dialektisches Gegenteil demontiert wird, scheinen Artists Anonymous mit gewaltiger Energie zu jenem Projekt der Moderne zurückzukehren, bei dem man sich einstmals erhoffte, Kunst und Leben zusammenzuführen. Aber statt sich irgendeine unehrliche Lösung der Frage von Kunst und Gesellschaft auszumalen oder sich in eine gelehrte Kunst zurückzuziehen, die mit der breiteren Kultur nichts zu tun haben will, dienen die Umkehrungen, Widerspiegelungen und Verdoppelungen dazu, zu zeigen, dass die Kunst wirklich keine sichere Identität hat, und dass ihr spezielles Anderssein ihr unter der Bedingung angeboten wird, dass sie ihre üblichen Bindungen an die breitere Kultur durchtrennt. Das ist so, weil sich diese Figuren weder außerhalb noch innerhalb der Kultur der Kunst mit Sicherheit identifizieren lassen, weil sie die bequeme, gebilligte Distanz der Kunst zu bedrohen, ja in gewissem Sinne zu schockieren scheinen; es ist der Schock einer Erfahrung, die populäre und künstlerische Technik in einem allgemeinen Gegensatz zum Schauspiel der industriell gefertigten Kultur vermischt. Worauf Artists Anonymous hinweisen, ist vielleicht Folgendes: Künstler sollten nicht so sehr vorgeben, einen sentimentalen Punkt finden zu wollen, an dem Kunst und Massenkultur zueinanderfinden, sondern eher die Gewalt offenbaren, die die Trennung zwischen Kunst und Nichtkunst zunächst hervorruft. Der Schock hat dann die Kraft, die erforderlich ist, um es den beiden Bereichen der Kunst und der Massenkultur zu erlauben, jeweils in den anderen hinein und durch den anderen hindurch zu sprechen, sodass, obwohl diese Trennung beharrlich von den Gebietern der ‘Kunstwelt’ und der Medien verteidigt werden mag – sie sind ja darauf bedacht, das Anderssein und die Identität der Kunst aufrechtzuerhalten –, anschaulich und eindringlich deutlich gemacht wird, dass diese Unterscheidung falsch ist.